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Frühling in amerikanisch Sibirien

Vier Wochen Vorglühen für den Sommer: Das war der Plan

Kent am Housatonic ist ein Kleinstädtchen mit ca. 2.500 Einwohnern
und liegt 180 km nördlich von Manhattan. Die Route 7 windet sich von NY bis zur Kanadischen Grenze über 500 Kilometer parallel zur Grenze von New York State. Kent ist seit 40 Jahren Heimat unserer Cousine Sabine.


Was als ausgedehnter, geruhsamer Verwandtenbesuch geplant war, entpuppte sich als Expedition ins Sibirische. Mai in Neuengland, das bedeutete Erwartung eines angenehm-warmen Frühlings mit lauen Abenden und sprießendem Grün. Bekommen haben wir Tagestemperaturen zwischen fünf und 15°C, bitterkalte Abende, kalte Nordwinde und eine Menge Regen. Immerhin, die waren gut fürs Grün.

Erholen wollten wir uns, entspannen nach den strapaziösen Monaten der Wohnungssuche und des Um- und Einzugs. Ausruhen, die Geruhsamkeit amerikanischen Landlebens genießen, auf der Main Street (Foto re.) mit alten Bekannten eine Tasse Haselnußkaffee trinken und mit Sabine alte Familiengeschichten aufwärmen.

Zwischendurch - so der Plan - ein paar Mal ausbrechen: Mit der Bahn einen Tag nach New York, ein Konzert hier und ein Musical dort. Jedoch: Regen und Altersschwäche haben Striche durch unsere Rechnung gemacht. Ein "Foggy Day in London Town" ist schon schlimm genug, aber ein "Rainy Day in New York City" der Horror. Zwei Stunden in den ratternden Vorortzügen der Metro North und dann durchnäßt und ohne Bleibe den Tag vertreiben mit MoMa, Martini, Dim Sum und Bloomies. Das hatten wir schon mal durchexerziert.

Daß Tony Bennett, der letzte Überlebende der legendären Crooner, möglicherweise kurzfristig sein Konzert in Hartford absagen würde, dieses Risiko waren wir eingegangen. Denn eine zweite Chance, ihn auf der Bühne zu erleben, wird's wohl nicht geben. Ist der Mann doch 90 Jahre alt. Daß es dann genauso so eintrat, nun denn. Bad Luck.



Blieb KK. Seit meiner ersten Begegnung mit der Musik der Hillbillies, Rednecks und Cowboys in der legendären Grand Ole Opry in Nashville (Tennessee) 1965 besteht mein Faible für die schwermütigen Balladen um Herz und Schmerz, um Einsamkeit und Verlassenwerden, um Heimatlosigkeit und Gefangenschaft. Emmylou Harris hatten wir in den vergangenen Jahren live erlebt, auch Dolly Parton. Nun also Kris Kristofferson. Dafür eine Zwei-Tages-Reise zu investieren war schon grenzwertig. Würden wir von - sagen wir - Frankfurt nach München fahren, um im alten Kronebau Willy Hagara zu hören? Aber es waren ja nicht Frankfurt und München und der Kronebau und Willy Hagara, es waren Kent (Connecticut) und Portland (Maine) und das aus den 1920er-Jahren stammende State-Theater und Kris Kristofferson. Nicht zu vergessen, 2000 Amerikaner im Cowboyoutfit, mit Stetsons und Stiefeln, Jacken mit Fransen und Nägeln, ein Sixpack in der Hand und einer Menge guter Laune.

Und dann war da noch die geruhsame Fahrt über die Highways Neuenglands, durch Connecticut, Massachussetts, New Hamshire, Maine mit zwei Designer Outlets auf dem Weg und die geplante große Hummer-Sause am Atlantik.



Kris Kristofferson
KK war zu Herzen gehend gut. Obwohl er den einen oder anderen Ton nicht richtig traf und obwohl man den Eindruck hatte, daß in manchen Passagen seine Stimme brechen würde: der alte Haudegen übt immer noch dieselbe Faszination aus wie in seinen jungen Jahren. Welch eine - auch physische - Leistung für einen Achtzigjährigen, zweimal 45 Minuten ohne Pause live, ohne unterstützende Band und Gogos, allein mit seiner Gitarre und dem Mikrophon seine Zuhörer zu Begeisterungsstürmen hinzureißen!

Hörprobe gefällig? ♬ "I Love You From Here to Forever"



Das Lobster-Projekt


Den alten Paczensky-Satz über das Flambieren am Tisch: "Gekocht wird in der Küche" sollte man analog bei einem Lobster Dinner anwenden: Geknackt, gepult, gebrochen, gerissen wird in der Küche, dann wird nicht zusätzlich am Tisch geschimpft, gesabbelt, geekelt. In der Portland Lobster Company am Hafen hatten wir reserviert. Nach allen Suchkriterien die Nummer Eins am Ort. Doch was heißt das schon? Die Topposition mag sich auf die Frische und Qualität der Hummer beziehen.

Aber: Mit alten Nußknackern und Besteck aus Plastik läßt sich der frischeste Maine-Lobster nicht genüßlich verzehren. Da Hummergabeln nicht zur Ausstattung gehören, erspart man sich die Fummelei mit den Hummerbeinen. Das verkürzt die Verweildauer und ist gut fürs Geschäft. Außerdem gibt's ja Doggy Bags.

Das Tablett wird auf die unmäßige amerikanische Art voll gepackt mit recyclebaren Töpfchen mit Cole Slaw und zerlassener Butter, mit Maiskolben, zusätzlich abgepackten Butterportionen und vertrockneten Grünkohlstrünken und natürlich einem Berg French Fries. Dazu ein guter Sauvignon Blanc aus dem Napa Valley - im Plastikbecher. Herz, was willst Du mehr?

Da wir - wenn schon denn schon - in Gier auf das Lobster Dinner zwei ganze Hummer bestellt hatten und Tablett und Tisch klein waren, sah es schon nach wenigen Minuten aus wie auf einem Schlachtfeld.

Gut, daß es die unsäglichen Erfrischungstücher gab. So rochen wir nach all der Handarbeit (hat schon jemals jemand Lobster Dinner als Finger Food bezeichnet?) nicht mehr nach Meer und Fisch sondern eher, als ob wir in der Kosmetikabteilung vom Woolworth die Parfümflaschen umgefüllt hätten. Wie denn der Lobster war? Weiß ich nicht. Jedenfalls ausreichend für den Rest des Lebens.


Was tat sich sonst noch


Kirchgänge im kleinen Kent, mal zu den Römisch-Katholischen, mal mit Sabine zu den Episkopalen. Der Unterschied im Ritus ist nur für Liturgiefeste auszumachen: Die Anglikaner zelebrieren den Friedensgruß unmittelbar nach den Fürbitten, dafür aber mit noch mehr Inbrunst: Alle, Priester, Meßdiener, Kollekteure, Jung, Alte laufen kreuz und quer, knutschen und umarmen sich - wie zu seligen Zeiten der Flower Power.

Der Ablauf und die Gebete sind gleich, das Sitzen, Knien, Stehen, die Kommunion, die Kollekten. Wenn man's nicht wüßte, weil's an der Eingangstüre steht ...

Doch halt, ein Unterscheidungsmerkmal gibt es: Das Durchschnittsalter der Gläubigen in den gut besuchten Gottesdiensten beider Konfessionen ist bei den Katholen durch die vielen kinderreichen Familien niedriger. Das äußere Erscheinungsbild ist ärmlicher. Hingegen dominieren bei den Anglikanern blau-haarige ältere Damen das Gemeindebild.


Um unsere Kirchengeschichte zu komplettieren, sei auch das noch erwähnt: In der luxuriösen, privaten Kent School hat sich Moni in die Kunst des Beierns einweisen lassen.



Und darüber hinaus?


Wenig. So wenig, daß ich mich aufs Bird Watching verlegte. Ich, der kaum einen Spatz von einer Nebelkrähe unterscheiden kann, saß mit gezückter Kamera im Wohnzimmer und knipste durch das geöffnete Fenster, was mir vor die Linse kam: hauptsächlich Vögel. Und was für welche! So, wie sich der Indian Summer Neuenglands von unseren bunten Herbstwäldern unterscheidet, so viel bunter ist die Vogelwelt in den USA.

Vögel Neuenglands




Der Rote ist ein "Cardinal" und der Blaue ein "Bluebird" und der Rest sind hauptsächlich Finken und Spechte. Die exakte Spezies anhand des Vogelbestimmbuches herauszufinden, war mir bei aller neu entdeckten Liebe für die Ornithologie zu mühsam.









Zwischendurch wurde der Vogelfriede gestört durch putzige Sqirrels und die noch putzigeren Chipmunks. Die grauen US-Eichhörnchen - so niedlich sie aussehen - sind wegen ihres Raubverhaltens gehaßt von den Einheimischen und mit dem uncharmanten Namen "rats with bushy tails" belegt. Chipmunks - in unserer Sprache, eher nach einem Bäckereiprodukt klingend "Streifenhörnchen" genannt - stehen in keinem besseren Ruf. Ihre Haupttätigkeit scheint darin zu bestehen, sich Zugang ins Innere von Vogelhäuschen zu verschaffen. Durch Benagen der Schlupflöcher erweitern sie diese soweit, bis sie ihre schlanken Körper hindurchzwängen können - zur reichen Ernte.


Und ihre niedlichen Feinde






Dann war da noch der "Wild Turkey" im Garten. Welch stolz schreitender Vogel und welch schön klingender Begriff im Vergleich zu unserem "Wilden Truthahn".
Truuut-haahn mit dumpfen, gedehnten Vokalen - und dann kurz, spitz, aggressiv "wild"? Ich glaube mich zu erinnern, daß so etwas als 'mangelnde Vokalhamonie' verurteilt wird.
Doch wann kommt im allgemeinen Sprachgebrauch schon die Kombination "wilder Truthahn" vor? Und deswegen ist's auch wurscht.
"Wild Turkey" jedoch ist klasse, mit Wild Turkey assoziiere ich immer Bourbon, Faust und Erdoğan.


Und da war dann noch die Geschichte mit dem Bären

Weil die sonst üblichen, schnellen und teilnehmenden Reaktionen meiner kleinen Stamm-Leserschaft ausblieben und die beiden einzigen Kommentierungen Formulierungen enthielten, die für diese Absender untypisch waren, beschlich mich der Gedanke, ob meine Bärengeschichte möglicherweise als zu dick aufgetragen bewertet wurde und sich damit abqualifizierte.

Hatte ich meine Glaubwürdigkeit durch die Bärengeschichte in Frage gestellt? Während ich darüber nachgrübelte, erinnerte ich mich an den unglaublichen Bohei um 'Bruno, den Problembären', der es sogar zum Thema in der bayerischen Staatskanzlei geschafft hatte. Jetzt verstand ich:

SO werden Bärengeschichten geschrieben!

"Spätestens ab dem 19. Mai 2006 kannte man ihn auch nördlich der Alpen: Er passierte die deutsch-österreichische Grenze. Der erste Bär nach 170 Jahren. Wiederholte Einbrüche in Ställe und seine Auftritte in Siedlungen verschafftem 'JJ1' den Ruf eines 'Problembären'.

Vergrämungsversuche, wie das Befeuern mit Gummigeschossen und Knallkörpern waren gescheitert. Also gab die bayrische Landesregierung den Bären zum Abschuss frei.

Aus 'JJ1' wurde 'Bruno'. T-Shirts mit Solidaritätsslogans wurden gedruckt. Stofftierhersteller legten Sondereditionen auf. Bonbonfabriken setzen auf süße Schaumleckereien. Medien aus den Niederlanden, den USA und Japan interessierten sich für die Geschichte. Berichte über die märchenhafte Bärenhysterie schafften es selbst in die Washington Post und die New York Times.

Gegen den geplanten Abschuss des Bären protestierten nicht mehr allein Tierschützer, selbst die Tiroler Jäger weigerten sich den 'Henker' zu geben. Obwohl er erneut sechs Schafe riss, hob man den Schießbefehl widerwillig auf. Bruno lebend fangen und ihn in ein Gehege verfrachten, so lautete der neue Plan. So wurden finnische Bärenjäger mit karelischen Bärenhunden engagiert. Der Plan war gut; er funktionierte nur nicht. Nach knapp drei Wochen gaben die Finnen entnervt auf.

Die Bewohner einer Bergpension staunten nicht schlecht, als sie den Bären wenige Meter vor dem Haus vorbeispazieren sahen. Er war auf dem Weg zu einer in der Nähe gelegenen Almwiese, wo er sein 32. und letztes Schaf riss. Der Bär hatte jede Scheu verloren. Dies wurde ihm zum Verhängnis. In den frühen Morgenstunden wurde Bruno auf der Kümpflalm an der Rotwand erlegt. An der Abschussstelle errichteten Tierfreunde eine Art Altar und riefen zu Demonstrationen gegen die 'Bärenmörder' auf."
(Quelle)

SO also gehen Bärengeschichten !

Ich Trottel hatte geglaubt, daß unser Bärenerlebnis hinter Sabines Wohnhaus etwas Besonderes, Denkwürdiges sei, etwas, das man nicht alle Tage erlebt und das pflichtschuldigst - ein bißchen stolz, ein bißchen angeberisch und immer noch ein wenig Angst in den Knochen - zu vermitteln sei. Daß dies ein Irrtum war, erkannte ich zu spät.

Meine Geschichte? Kein Vergleich zu der aufregenden Bruno-Geschichte! Was war meine Story denn schon Besonderes? Sie handelt nicht von karelischen Bärenhunden, finnischen Jägern, Naturschützerdemos und internationaler Presse, es gibt keine Abschußpläne, keine Vergrämungstaktiken, keine Drückjagden und keinen Ministerpräsidenten, der meinen Bären 'Problembären' nennt. So etwas hatte ich nicht zu vermelden, es gab nicht einmal ein gerissenes Huhn, ja nicht einmal eine Notiz in der Lokalzeitung.

Es gab eben nur diesen einen, ausgewachsenen Schwarzbären, der durch Sabines Garten trottet und Moni, die mit iPod-Stöpseln in den Ohren sonnenbadend genau auf des Bären Wildwechsel vor sich hinträumt. Und meine Angst vor einer drohenden Kollision der beiden. Und mein instinktives Einschüchterungs- und Warngeschrei. Und ein popliges Foto der Bärenfott.






Falls sich trotzdem jemand für UNSERE, die wahre Bärengeschichte interessiert, Hier ist sie

Köln, im Mai 2017
© Friedrich Ortwein

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